Ihre Sehnsucht nach einer freien modernen Gesellschaft ist groß. Deshalb lassen sie nicht locker und erinnern ein ums andere Mal an die vielversprechenden Anfänge der türkischen Republik. Mit einem rauschenden Ball haben am Montag die Freunde der Ideologie von Mustafa Kemal Atatürk im Hotel Munte die Gründung der Türkei vor 94 Jahren gefeiert.
Am 29. Oktober 1923 wurde in Ankara, der späteren Hauptstadt der Türkei, die Republik ausgerufen. „In den ersten zehn Jahren der jungen türkischen Republik wurde eine Vielzahl von tief greifenden Reformen realisiert, die alle das Ziel hatten, das Land in kürzester Zeit auf das Niveau moderner westlicher Zivilisationen zu bringen“, sagt Dursun Atilgan, Präsident der Vereinigungen Atatürks in Europa. Atatürk habe Wert gelegt auf die parlamentarische Demokratie, Gleichberechtigung sowie Wissenschaft und Bildung. „Atatürk hat aus dem Westen vieles übernommen. Die Gleichberechtigung der Frau gab es in der Türkei eher als in vielen anderen europäischen Ländern.“
Seitdem habe sich das Bild der Türkei sehr zum Negativen verändert, meint Atilgan. „Ich bin manchmal verzweifelt und frage mich: Was wird aus diesem Land“, sagt der Deutschtürke. „Es tut uns so leid. Unsere Kinder werden darunter leiden, weil sie mit Fragen konfrontiert werden in Zusammenhang mit den Ereignissen in der Türkei.“ Angst und Erpressung stünden dort auf der Tagesordnung. Sorge hat Atilgan vor allem, weil Staat und Religion seiner Ansicht nach nicht getrennt werden – wie Atatürk es gefordert habe – und die Gleichberechtigung der Frauen nicht mehr durchgesetzt werde. „Ich kritisiere die Regierung, die selbst mit Freunden nicht umgehen kann“, sagt Atilgan weiter. Dass er ins Visier von Erdogans Schergen geraten könnte, davor hat Atilgan keine Angst. „Ich möchte nichts mit Leuten zu tun haben, die ihre Religion zur politischen Machtergreifung missbrauchen“, schimpft er. Atilgan fordert mutig die Trennung von Politik und Religion in der Türkei. „So wie jetzt kann es nicht weitergehen“, glaubt er, „der Wähler muss sagen: Ich bin das Volk und kann den richtigen Weg beschreiten. Ich hoffe, dass Erdogan nicht mehr gewählt wird“.
Während Atilgan spricht, tragen Köche dampfende Behälter mit Essen herein. Es gibt Kürbiscremesuppe, eine Auswahl Antipasti, Putenschnitzel mit Salbei und zum Nachtisch Panna cotta. An den festlich gedeckten Tischen plaudern und grüßen sich Frauen in glitzernden Abendkleidern und Männer in dunklen Anzügen. Es wird viel gelacht und türkisch gesprochen. Bei Wein und Raki tauschen sie sich über den neuen Wohnort aus; darüber, wie es ist, zweisprachig und mit zwei Kulturen aufzuwachsen. Es werden Selfies gemacht. Es wird getanzt und gesungen bis 1.30 Uhr in der Nacht.
Auch in der Türkei feiern an diesem Tag die Anhänger der Ideologie Atatürks, da ist Yelda Cedidi vom Vorstand der „Atatürk Gesellschaft im Lande Bremen“ sicher. „Aber es wird weniger.“ Die Kemalisten, wie sie genannt werden, versteckten sich immer mehr. „Es ist nicht gern gesehen, wenn sie feiern, weil sie andere Ansichten vertreten als die Regierung.“ Viele trauten sich nicht, ihre Meinung zu sagen. Auch in Bremen habe man vor Jahren mehr gefeiert. „In diesem Jahr feiern nur wir“, sagt Cedidi, die ein bodenlanges grünes Abendkleid mit weitem Ausschnitt trägt. „Ich als Frau empfinde die Entwicklung in der Türkei als sehr besorgniserregend.“ Die Republik bewege sich rückwärts. „Immer mehr Frauen verschleiern sich, das sind Dinge, die Atatürk für uns Frauen nicht mehr wollte.“ Der Staatsmann habe sich für mehr Freiheit und das Wahlrecht für Frauen eingesetzt. Das schätzt auch Recep Ali Tüfek. Er ist einer der beiden Vorsitzenden der Bremer Atatürk-Gesellschaft. „Wir wollen, dass unsere Frauen gleichberechtigte Bürger sind.“ Tüfek setzt sich nach eigenem Bekunden für Menschenrechte, Demokratie und Gleichberechtigung ein. „Ich habe Mutter und Schwester in der Türkei und möchte, dass sie in Freiheit leben.“ In Bremen gebe es leider viele Landsleute, die anders denken als er, sagt der Berufsschullehrer. „Mit denen diskutiere ich auch.“ Rund 120 Mitglieder zählt der Verein seinen Angaben zufolge – vom Studenten bis zum Rentner. Mehr als die Hälfte seien Frauen. Tüfek wünscht sich, dass sich die Türkei und Deutschland einander wieder annähern.
„Jetzt aber feiern wir“, sagt Yelda Cedidi. Wir, das sind 250 vorwiegend türkische Gäste: Lehrer, Designer, Richter, Fußballer. Junge Frauen und Männer sind dabei, reifere und Senioren. Geschäftsfrau Nil Schultz leuchtet im figurbetonten roten Samtkleid. Auf ihrem Dekolleté liegt funkelnd der türkische Halbmond. „Ich freue mich, meine Freunde wiederzusehen“, sagt Schultz. In Deutschland lebe sie gern. Hier gehöre sie hin. Ihr Herz aber sei in der Türkei.
Grünes Abendkleid – Grünes Abendkleid