Von Nathalie Roden

Wenn eine Lehrerin ihre Schüler während des Unterrichts auf den Speicher verbannt, steckt nicht notgedrungen eine Strafmaßnahme dahinter. Sarah Daemen, Lynn Hoffeld und Elena Vickerstaff brauchten schlichtweg mehr Raum, um sich kreativ entfalten zu können. Die ausladende Papierrobe, die sie im Rahmen des Wahlfachs „Création de mode“ hergestellt haben, raubte zu viel Platz im Klassenzimmer.
Hätten die drei 17-jährigen 3e-Schülerinnen des „Lycée de garçons“ im Vorfeld geahnt, wie viel Arbeit und Material am Ende in ihrer Modekreation stecken würde, hätten sie sicherlich Buch über die Anzahl benötigter Zeitungsseiten geführt. So bleibt ihnen zur Einschätzung des geleisteten Aufwands nur eine grobe Zeitangabe: Zweieinhalb Trimester, je zwei Stunden pro Woche, haben sie Zeitungsseiten gefaltet, getackert, geflochten, festgebunden und geklebt, bis ihre Vision dreidimensional zu Papier gebracht war.
„Die Aufgabenstellung lautete ,Volumen‘“, erzählt Kunstlehrerin Carmen Carvaco, die für das Wahlfach verantwortlich war, „wobei die Wahl des Materials den Kursteilnehmern freistand.“ Dass sich aufgrund der leichten Manipulierbarkeit die meisten ihrer Schützlinge für Papier entschieden, habe die 34-Jährige allerdings nicht gewundert.

Darunter auch das Trio Daemen / Hoffeld / Vickerstaff. Ihre Robe basiert auf einem selbst gebastelten Unterrock aus Draht, an dem Hunderte Papiervolants befestigt wurden. Das Bustier wiederum besteht aus gefalteten Zeitungsstreifen, die zu einem Oberteil verflochten wurden. „Manchmal waren wir mit den Nerven am Ende, weil es nicht so geklappt hat, wie wir es uns ausgemalt haben“, erinnert sich Sarah Daemen. Trotzdem hat das Trio 60, also die volle Punktzahl, eingefahren – auch, wenn sich das Kleid leider nicht zum Tragen eignet.
Mit ihrer Idee, Papier zur Kreation von Kleidungsstücken zu nutzen, reihen sich die drei Schülerinnen in eine überraschend lange Tradition ein. Der Legende nach soll sich bereits im Jahr 988 ein japanischer Mönch das erste „Kamiko“ (zu Deutsch: Papierhemd) angefertigt haben. Um seine Besucher in sauberer Kleidung empfangen zu können, soll er die heiligen Schriften Buddhas kurzerhand zweckentfremdet haben.
Legende hin oder her – fest steht: Andere Materialien, wie Baumwolle oder Seide, standen den Menschen damals oft nicht zur Verfügung oder waren zu kostspielig, so dass japanische Bauern irgendwann das Papier, das zu diesem Zeitpunkt bereits zur Herstellung von Wänden, Schirmen, Taschen und sonstigen Alltagsgegenständen eingesetzt wurde, auch als Kleidungsstoff für sich entdeckten. Zur Herstellung ihrer Low-Budget-Hemden verwendeten sie „Washi“, ein besonders stabiles Papier aus den Fasern des Papiermaulbeerstrauchs.
Um es geschmeidiger zu machen, wurde es vor dem Anziehen ausgiebig geknittert. Besonders haltbar war es allerdings nicht: Nach mehrmaligem Tragen musste ein neues „Kamiko“ her. Mit der Zeit bürgerte sich das Tragen von Papiergewändern auch unter buddhistischen Mönchen ein. Und sogar die wohlhabenderen Gesellschaftsschichten fanden nach und nach Gefallen an der Papiermode.
Um seine Stabilität und Geschmeidigkeit zu steigern, wurde das Papier ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr blattweise verwendet, sondern streifenweise. Die Streifen wurden derart fest in sich gedreht, dass ein Garn entstand, das sich sogar zum Weben eignete: „Shifu“. Auch hierzu existiert eine Legende: Im 16. Jahrhundert soll ein Spion eine geheime Nachricht zerrissen, die Papierstreifen zusammengerollt und zu einem Kleidungsstück verarbeitet haben, um das brisante Schriftstück durch feindliches Gebiet zu schmuggeln. Später griffen auch Samurai-Krieger auf „Shifu“-Gewänder aus mit heiligen Texten beschriebenem Papier zurück.
In Europa entdeckte man das Papier erst im 19. Jahrhundert, aus einer Rohstoffknappheit heraus, als modisch verwertbar. Wobei es vorwiegend als billiger Ersatz für Krawatten, Hemdkragen und Serviteurs, also nur die Brust bedeckende Vorhemden, verwendet wurde. Für mehr war es kaum geeignet, da das europäische Papier relativ unelastisch, steif und somit ziemlich unbequem war. Als die Rohstoffe im Laufe der Weltkriege allerdings noch knapper wurden, fand man sich auch damit ab und stellte in der Not sogar vorübergehend Uniformen und Unterwäsche aus Papiergarn her.

Jahrzehnte später, in den 1960er-Jahren, erlebte die Papiermode nochmals einen überraschenden Boom. Als Werbegag bot der US-Papierfabrikant „Scott Paper Company“ per Inserat Wegwerfkleider für nur 1,25 Dollar an. Überraschenderweise fanden sie reißenden Absatz: über 500 000 Bestellungen gingen ein. Weitere Hersteller witterten das große Geschäft und stiegen ebenfalls in die Herstellung der Papiermode ein. Allerdings mischten sie der Stabilität halber synthetische Fasern unters Garn. Doch obwohl selbst Stars wie Claudia Cardinale in entsprechenden Outfits gesichtet wurden, konnte sich die Wegwerfmode letzten Endes nicht durchsetzen.
Nichtsdestotrotz ziehen bis heute selbst namhafte Modedesigner wie der japanische Origami-Fetischist Issey Miyake den ungewöhnlichen Stoff immer wieder zur Umsetzung von Werkstudien heran. Ob die drei Schülerinnen ebenfalls einmal in die Fußstapfen dieser Vorbilder treten, steht noch in den Sternen. Lynn Hoffeld und Elena Vickerstaff haben momentan offenbar andere Pläne. Aber zumindest Sarah Daemen denkt darüber nach.
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